„… so mit Licht, Musik und Lachen empfing uns Lissabon“. schrieb Alfred Döblin, als er im Sommer 1940 in Lissabon ankam, während sich die Welt im Krieg befand.
Alfred Döblin, der Autor von Berlim Alexanderplatz (1929), kam mit anderen Flüchtlingen, die vor Krieg und Verfolgung flohen, in Lissabon an. Es war der Sommer 1940, der Blitzkrieg schien unaufhaltsam, die Deutschen hatten Belgien, die Niederlande und Luxemburg erobert und Frankreich besetzt. In ihrer Verzweiflung blickten viele nach Portugal. Das Land war während des Weltkonflikts neutral, und Lissabon bot mit seinem internationalen Hafen eine Ausreisemöglichkeit für all jene, die nicht mehr bleiben konnten.
Der Autor wusste so gut wie nichts über Lissabon, außer dass es die Hauptstadt Portugals ist und dass sich hier ein schreckliches Erdbeben ereignete, das Voltaire zu „seinen bissigen Bemerkungen über den Optimismus und die beste aller möglichen Welten“ inspirierte. Ein kultureller Besuch in Lissabon war nicht das Ziel, Lissabon war nur die Ausgangsstation.
Wer war Alfred Döblin?
Alfred Döblin wurde 1878 in Stettin (heute Polen) in einer Familie von Kulturjuden geboren. Er lebte mehrere Jahre in Berlin und schrieb neben seiner Tätigkeit als Arzt Romane, Theaterstücke, Hörspiele, Drehbücher und philosophische, politische und medizinische Essays. Er gehörte zur gleichen Generation wie Thomas Mann, Franz Kafka, Robert Musil und Erich Maria Remarque. Dem portugiesischen Publikum nahezu unbekannt, gilt er als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein Meisterwerk Berlin Alexanderplatz war bei seiner Veröffentlichung ein sofortiger Erfolg und erlangte durch die Fernsehverfilmung von Rainer Werner Fassbinder im Jahr 1979 ein neues Publikum. Berlin Alexanderplatz wird häufig mit James Joyce‘ Ulisses und Manhattan Transfer von John Dos Passos verglichen.
Sein Medizinstudium und seine Karriere im Bereich der Psychiatrie und Neurologie – zu einer Zeit, in der sich viele tiefgreifende konzeptionelle Veränderungen in Bezug auf das menschliche Gehirn und die Psychologie vollzogen – haben sein Schreiben stark beeinflusst. Seinem Eingeständnis zufolge war seine Tätigkeit als Kliniker ein Teil seines Schreibens und politischen Denkens.
Döblins Verbindung zum Judentum war eher kultureller als religiöser Natur, aber als Jude in Deutschland litt er schon früh unter Antisemitismus. Mit dem Aufstieg Adolf Hitlers im Jahr 1933 verließen Alfred Döblin und seine Familie Berlin und ließen sich in Paris nieder. Mit der Besetzung von Paris durch die Deutschen ist der Autor gezwungen, erneut zu gehen und diesmal ganz Europa zu verlassen.
Döblin in Portugal
Die Zeit, die Döblin in Portugal verbrachte, beschreibt er in seinem 1949 erstmals erschienenen Buch Die Reise des Schicksals. Das Buch ist in drei Teile gegliedert, von denen jeder die Jahre im Exil, die erste Zeit in Frankreich, die Flucht aus Europa und die Zeit in den Vereinigten Staaten beschreibt. Kapitel 14 ist Portugal und Lissabon gewidmet.
Die Familie Döblin betritt Portugal mit Besorgnis. Über die Art und Weise, wie die Flüchtlinge in Portugal aufgenommen wurden, kursierten verschiedene Gerüchte. Das Land hatte allein in diesem Jahr etwa 38 000 ausländische Menschen aufgenommen, die meisten von ihnen waren gezwungen, monatelang zu warten, bis sie ein Ticket zur Ausreise aus Europa erhielten.
Wenig angenehme Gerüchte über Portugal hatte man uns zugetragen: man würde gleich bei der Ankunft auf der Bahn festgehalten werden, man würde uns nicht nach Lissabon hineinlassen, in Lissabon hielten sich auch schon Tausende von Flüchtlingen auf, die Polizei schiebe die Neuankommenden in die Provinz und in Lager ab. Nun, wir verließen mutig, getränkt von diesen Gerüchten, den Zug. Wir gingen im Getümmel der Reisenden zur Sperre. Wir gaben wie normale Menschen unsere Billets ab. Keine Pässe wurden uns abgefordert. Niemand stellte uns. So selbstverständlich nahm uns Lissabon auf, so prächtig enttäuschte uns Lissabon.
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
Alfred Döblin in Lissabon
Das Kapitel beschreibt die ersten Eindrücke, die Lissabon bei der Familie Döblin hinterließ. Während sie aus anderen europäischen Ländern kamen und sich aufgrund des Krieges in Dunkelheit befanden, war Lissabon als neutrale Stadt von Neonlicht erfüllt. Der Kontrast zwischen dem Glück, das sie umgab, und dem Elend, das sie empfanden, ist in seinen Worten zu spüren.
Es war zwei Uhr nachts. Wir fuhren durch strahlend helle Straßen, auf denen sich Scharen fröhlicher Menschen bewegten, ja, so mit Licht, Musik und Lachen empfing uns Lissabon.
Wir werden den Stoß nicht vergessen, den uns das gab. In welchem gequälten Zustand wand sich, nicht weit von hier, das große Frankreich, Städte lagen in der Verdunkelung des Krieges, der nördliche Teil des Landes war von Eroberern überflutet. Man hungerte und man wartete, was der Sieger anordnen werde. Man litt und war gebrochen. Millionen Männer wurden in Gefangenschaft geführt, Millionen ängstigten sich, Zehntausende waren getötet – und hier strahlte das Licht. Man genoß den Frieden.
Wir konnten uns nicht freuen. Wir dachten nur an das dahinten.
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
Die Familie wohnte in einem Hotel im Zentrum von Lissabon, in der Rua dos Fanqueiros.Das Hotel existiert nicht mehr, und die lebhaften Beschreibungen von Döblins Umgebung haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. In den 1940er Jahren war die Rua dos Fanqueiros eine Straße mit zahlreichen Bekleidungsgeschäften. Auf dem nahe gelegenen Praça da Figueira befand sich einer der belebtesten Märkte der Hauptstadt. All diese kommerziellen Aktivitäten wurden durch Restaurants, Hotels, Cafés und Souvenirläden ersetzt.
Was Döblin beeindruckt, sind die lauten Geräusche der Stadt.
Ja, wir wohnten im lautesten Verkehrszentrum der Stadt. Ein Pelzwarengeschäft nahm die andere Hälfte unserer zweiten Etage ein, unten lagen Speiseräume, daneben die Konsultationsräume eines Arztes. Parterre am Fuß der Treppe und auf dem weiten Flur hatte ein Kleider- und Wäschehändler seine Waren ausgebreitet. Man mußte sich zwischen seinem Ladentisch und den Kunden durchwinden, um auf die Straße zu gelangen.
Die meisten Geschäfte boten Kleider- und Wäschestoffe feil. Mit ihren Tuchballen füllten die Kaufleute nicht nur Läden und Schaufenster, sie rollten sie auch vor den Läden auf und drapierten damit die Eingänge. Morgens sah man die Kaufleute an der Darbietung ihrer Kostbarkeiten arbeiten, abends rollten sie alles wieder ein. Am Sonnabend schrumpfte die ganze Gegend zusammen. Und am Sonntag standen sich in der nun völlig stummen Straße nur graue Privathäuser gegenüber, die die Augen niederschlugen, als ob sie bei einer Sünde ertappt worden wären.
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
Und kein anderes Geräusch beeindruckte Alfred Döblin mehr als die Straßenbahnwagen. Obwohl die Straßenbahnen zum normalen öffentlichen Nahverkehr in Lissabon gehören, sind sie heute weniger geworden und gelten allgemein als charmant und als Touristenattraktion.
Lissabon ist, industriell gesprochen, ein moderner Großbetrieb zur Erzeugung von Lärm. Er besitzt zunächst die Elektrischen. Sie fahren in großer Dichte hintereinander, mit oder ohne Passagiere. Sie rumpeln in den Schienen, sie rasseln über das Geleise, sie vermögen die Scheiben zum Klirren zu bringen. Der Fahrer hat mindestens eine Klingel, wahrscheinlich stehen ihm zwei zur Verfügung. Es gelingt dem portugiesischen Fahrer, daß sie tönen, wenn er anschlägt, – und er schlägt ununterbrochen an, es ist reine Freude – wie drei. Er ist ein Klingelfahrer.
(…)
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
Sein Wagen hat vorn eine mächtige, schaufelförmige Schutzvorrichtung. Wenn der Wagen damit um die Ecken biegt, hat man den Eindruck; er will Passanten mähen. Die Wagen in Lissabon fahren gern um Ecken, ja vorzugsweise um Ecken, und Lissabon ist darum mit vielen Ecken ausgestattet, weil das Fahren um Ecken eine unglaubliche Vielheit von Geräuschen ermöglicht..
Die Autos sind jedoch nicht weit dahinter.
Die Marken der Wagen kennt man, aber im Lissaboner Stadtbereich offenbaren sie anderswo unbekannte Charaktere. Unbeschreiblich umständlich fahren sie schon. Das Abfahren, also die Idee, der bloße Plan, die Absicht einer Bewegung versetzt die Autos, die anscheinend rasch einschlafen, in einen gefährlichen Reizzustand, so daß sie anfangen, schlangenartig zu zischen. So äußert sich ihr Plan, abzufahren. Dann schnurren und brummen sie. Ich wich jedem Lissaboner Auto aus, denn ich verstand diese Sprache nicht und wer kann wissen, was in ihnen steckt. Ich lernte die Sprache nicht. Es scheint mehrere AutoSprachen zu geben. Einige Wagen beginnen, wenn man sie beim Fahren sich selbst überläßt, behaglich zu schnarchen. Einige fangen unvermutet an zu trompeten. Einige schniefen wie verschnupfte Rhinozerosse. In der Nacht hörte man öfter welche in der Ferne, da zankten sie sich. Es mußte ein Ehepaar sein. Sie suchten einander zu überschreien.
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
Während des gesamten Kapitels werden wir mit den Schwierigkeiten konfrontiert, mit denen die Familie konfrontiert ist: Geldmangel, die Angst vor der portugiesischen Bürokratie, die unerträgliche Sommerhitze und die lange Wartezeit. Die meisten Flüchtlinge, die in dieser Zeit nach Lissabon kamen, waren auf der Durchreise zu anderen Zielen außerhalb Europas, meist in die Vereinigten Staaten. Sie hatten eine befristete Aufenthaltsgenehmigung und brauchten ein Visum und ein Ticket für ein transkontinentales Schiff, was eine wochen- oder sogar monatelange Wartezeit bedeutete. Sie durften nicht arbeiten, und die meisten von ihnen konnten mit der Hilfe verschiedener jüdischer Organisationen, sowohl portugiesischer als auch internationaler, überleben.
Um sich die Zeit zu vertreiben, saßen sie, wie die Familie Döblin, in Cafés, stellten Stühle ins Freie, um die Sonne zu genießen, und streiften durch die Stadt. Die Beobachtungen von Alfred Döblin über das Stadtleben und die Einwohner machen die kulturellen Unterschiede zwischen Portugal und dem übrigen Europa deutlich.
Da die Stadt das Meer und einen großen Fluß in der Nähe hat, verkauft und ißt man hier unheimlich viel Fische. Wir spazierten öfter in der Gegend des Fischhafens. Da warteten immer Hunderte von Männern und Frauen mit Körben auf die einlaufenden Fischerboote. Sie trugen die Fische in die Stadt und die Markthalle. Wenn die Frauen mit den flachen Körben auf dem Kopf, wenn sie mit stolz erhobenem Haupt, mit elastischen gleichmäßigen Schritten, den Leib leicht vorgebeugt, sich davonbewegen, so ist es allemal ein prächtiger Anblick. Manche transportieren so, in einem Korbgeflecht über dem kleinen Stützring, Feigen, die sie auf breiten, grünen Blättern gebettet haben..
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
…
Während der Fahrt hüpfen Straßenjungen auf die Wagen, nacktfüßig, in zerrissenen Jacken und Hosen, Zeitungsverkäufer. An einem Hügel kann man das originelle Denkmal eines solchen Jungen sehen. Sie verdienen ein Denkmal – vielleicht könnte man ihnen eines Tages auch Jacken und Hosen kaufen. Wenn die Jungen auf die Wagen springen, schreien sie. Das ist erstens ihre Natur von klein auf, zweitens jetzt noch ihr Beruf. Denn sie schreien ihre Zeitung aus. Einmal sah ich einen, der mit einer Zigarette in der Hand einem Wagen nachlief, er hatte im Wagen einen Mann entdeckt, er rauchte. Mit einem Satz war der Junge oben, hing außen an dem Wagen, der Herr gab ihm Feuer, der Junge dankte, schrie, sprang ab und schrie weiter.
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
Neben den Cafés, Hotels und Märkten war einer der gefragtesten Orte in Lissabon die Posta Restante, das internationale Postamt, wo die Flüchtlinge nach Familiennachrichten oder anderer wichtiger Post Ausschau hielten.
Die Poste restante-Ecke in Lissabon, in Portugal, im äußersten Winkel von Europa, wurde der tragische Treffpunkt für viele Menschen in diesem Unglücksjahr 1940, welches die Leichtfertigkeit und Gedankenlosigkeit des geruhigen Lebens in Europa aufgedeckt hatte. Völker wurden in Knechtschaft geworfen und Familien zerstreut. Europa büßte für seine Sünden und Unterlassungen. Und wir Flüchtigen, zu diesem Europa gehörig, wir standen hier in Lissabon und warteten auf den Rettungsball, der uns über den Ozean zugeworfen werden sollte.
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
Alfred Döblin und seine Familie verließen Portugal im Oktober 1940 in Richtung Vereinigte Staaten von Amerika. Vom Schiff aus sieht er noch einmal die Lichter der Stadt und die von der Regierung Salazar in Auftrag gegebene Ausstellung der portugiesischen Welt.
Die Fahrt zum Hafen – eine Stunde und länger dauerte sie, bis man uns zum Schiff heraufsteigen ließ. Unten standen Dutzende. Und als schließlich das Signal zum Einsteigen gegeben wurde, entstand ein Gedränge, so daß ein Beamter begütigend herunterrief: «Nicht stoßen, Herrschaften, nicht drängen. Hier sind die Nazis nicht hinter Euch.»
In der Dunkelheit setzte sich das Schiff in Bewegung. Langsam wurde es gedreht und den Tejo hinausgeschleppt.
Märchenhaft strahlte die Ausstellung herüber. Ihr zauberhaftes Licht war das Letzte, was wir von Europa sahen, in Trauer versenkt.
Alfred Döblin Schicksalsreise, Kapitel 14.
In den Vereinigten Staaten konvertierte Döblin zum Katholizismus, aber er blieb nicht lange. Er kehrte 1945 nach Deutschland zurück, aber enttäuscht von der Nachkriegssituation im Lande, ging er wieder nach Frankreich. Alfred Döblin starb im Jahr 1957.
Die Erfahrungen von Alfred Döblin und anderen Flüchtlingen in Lissabon während des Zweiten Weltkriegs werden in der Führung Flüchtlingen und Spionen in Lissabon behandelt.
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Dieser Artikel wurde auch auf Portugiesisch in Historialx.com veröffentlicht